Die gute Nachricht
Jede Organisation ist bereits (irgendwie) ambidexter! Oder war es wenigstens einmal.
Jede Organisation wurde irgendwann mit Pioniergeist aus der Taufe gehoben und hat sich nach und nach professionalisiert. Der Gründerspirit geht irgendwann Stück für Stück verloren, wenn man sich um geschmeidige Prozesse, schmalen Ressourcenverbrauch und „gute Zahlen“ kümmern muss. Dann bewusst wieder eingetretene Pfade zu verlassen und den Zustand der „Ungeklärtheit“ zuzulassen, fühlt sich für eine professionelle Organisation widersprüchlich an – und genau an diesen Punkt kommt die Ambidextrie ins Spiel. Sie adressiert genau dieses Spannungsfeld zwischen zwei Modi:
Der Exploit-Modus
Als Verbildlichung des Exploit-Modus können wir uns ein Räderwerk vorstellen – eine komplizierte, aber triviale Maschine. Ihr Ziel ist die Maximierung der Wertschöpfung durch fortlaufende Optimierung von Strukturen und Prozessen bei möglichst geringem Ressourceneinsatz.
Typische Merkmale sind klare Hierarchien und klar definierte Prozesse/Strukturen, die wenig Raum für eigenverantwortliches Handeln lassen; Lernen wird im Exploit-Modus nicht als Selbstzweck angesehen, sondern ist einem Zweck verbunden; Ressourceneffizienz hat Priorität, weshalb Fehler zu vermeiden und Perfektion anzustreben ist.
Das hat den Vorteil hoher Stabilität, Zuverlässigkeit und Kontrollierbarkeit. Gleichzeitig geht mit diesem Modus typischerweise eine gewisse Schwerfälligkeit einher. Man verliert an Innovationskraft und Flexibilität. Zudem können Motivationsprobleme entstehen, weil die Organisationsmitglieder unterfordert sind und zu wenig Verantwortung übernehmen (dürfen).
Unternehmen können mit dem Handeln im Exploit-Modus sehr lange sehr erfolgreich sein, nämlich dann, wenn ihr Geschäftsmodell nicht durch Wettbewerber oder (technische, gesellschaftliche oder sonstige) Entwicklungen bedroht ist und die Rahmenfaktoren stabil sind. Dementsprechend finden wir den Exploit-Modus sehr prominent in produzierenden Umgebungen und in allgemein älteren Unternehmen mit wenig veränderlichem Geschäftskern sowie Behörden oder Verwaltungseinrichtungen.
Der Explore-Modus
Den Explore-Modus können wir uns demgegenüber eher als Netzwerk verbildlichen – als komplexe, nicht-triviale Maschinen. Mit ihm verfolgt eine Organisation das Ziel, möglichst innovativ zu sein. Das ist häufig verbunden mit einem Fokus auf individuelle (Weiter-)Entwicklung sowie nicht selten auch mit Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz, weil Impulse aus der Umgebung aufgegriffen werden.
Typischerweise finden wir hier gering ausgeprägte und flache Hierarchien (was freilich Autoritätspersonen mit viel informellem Einfluss nicht ausschließt). Prozesse und Strukturen sind nur lose definiert, lassen viele Freiheitsgrade und werden nach Notwendigkeit kurzfristig verändert. Verantwortung liegt bei jedem einzelnen Organisationsmitglied, was hohe Ansprüche an Selbststeuerungsfähigkeit zur Folge hat. Lernen wird in explore-orientierten Umgebungen als Selbstzweck angesehen, Fehler werden als (gemeinsamer) Lernanlass verstanden.
Die Vorteile liegen auf der Hand: In diesem Modus ist die Organisation in der Regel sehr innovativ und flexibel. Andererseits ist sie wenig steuerbar, weist häufig ein ungünstiges Verhältnis von (Ressourcen-)Aufwand und Ertrag sowie geringe (Prozess-)Zuverlässigkeit auf. Unklare Entscheidungsprozesse und -strukturen bergen zudem die Gefahr der Überforderung für die Mitarbeitenden. Wir finden explore-lastige Organisationsbereiche meist in wenig regulierten Umfeldern, z. B. im Dienstleistungsbereich, im Umfeld der gar nicht mehr so neuen (sozialen) Medien oder auch in Start-Ups generell.
Organisationen brauchen beides: einen stabilen, überdauernden Kern, der Wertschöpfung erbringt und vorwärts gerichtetes Innovationsverhalten, um mit den Impulsen aus Wissenschaft, Technik, Gesellschaft und anderen Playern auf dem Markt mitgehen zu können. Oder anders ausgedrückt: Organisationen müssen – in je unterschiedlichem Ausmaß – ambidexter sein. Da die beiden Modi jedoch wie gezeigt stark widersprüchlich sind, bedarf es bewusster und gezielter Anstrengung, sie in ein dynamisches Gleichgewicht zu bringen.
Sie möchten mehr über Exploit und Explore erfahren?
Hier geht es zu den Beiträgen der Serie von Christoph Frey und Gudrun L. Töpfer zum Trailer und zu ihrem Buch:
Wozu mit Ambidextrie befassen?
Das Buch schafft ein vertieftes Verständnis für das ambidextre Spannungsfeld, das in jeder Organisation existiert. Mit dem Ekvilibro-Modell wird ein konkreter Ansatz vorgestellt, wie das Arbeiten mit Ambidextrie in Unternehmen etabliert werden kann.