Wie die Krise zur Chance wird
In 2019 wurde noch vielerorts gefordert, dass Unternehmen sich einen „Purpose“ geben sollten.[1] Mit ihm soll der Zweck definiert werden, zu dessen Erfüllung man sich im Unternehmen verpflichtet sieht. Im Kern bildet er das Nutzenversprechen an die Kunden ab, womit insbesondere aber auch Wert für die Gesellschaft geschaffen werden soll. Selbst besonders hartnäckige Verteidiger des Postulats einer Maximierung des Shareholder Value, wie etwa das einflussreiche «Business Roundtable» (BRT), eine Vereinigung der wichtigsten CEOs in den USA, lenkten nach 22 Jahren «Shareholder Primacy» zumindest offiziell ein: «Jede unserer Anspruchsgruppen ist von wesentlicher Bedeutung. Wir verpflichten uns, für alle von ihnen Wert zu schaffen, für den zukünftigen Erfolg unserer Unternehmen und unseres Landes.» [2] Auch der CEO des weltgrössten Vermögensverwalters Blackrock, Larry Fink, erklärte bereits in 2018: «Um im Laufe der Zeit erfolgreich zu sein, muss jedes Unternehmen nicht nur finanzielle Leistungen erbringen, sondern auch zeigen, wie es einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leistet.”[3] Wenn die Offenlegung der Informationen zu den Environment-, Social- und Governance-Anlagekriterien unterbleibt, kann es sein, dass man sich gegen die Wiederwahl des Aufsichts-/Verwaltungsrats wendet.
Als man gerade auf dem Weg zu einem umfassenderen und nachhaltigeren Stakeholder Management war, nahm Anfang 2020 das Corona-Virus die Weltgemeinschaft, und damit auch deren Wirtschaft, in den Griff. Wieder einmal kann niemand wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Wir finden uns dabei in Situationen wieder, die so unsicher und gleichzeitig so voller Möglichkeiten sind, dass wir keine Chance haben, die Komplexität voll in den Griff zu bekommen – egal wie viele Fakten wir sammeln. Für ein Risikomanagement fehlen uns die Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Strategische Entscheidungen basieren damit auf extrem hoher Unsicherheit.[4] Und trotzdem müssen Entscheidungen gefällt werden, denn sonst landen wir in der Paralyse. Das heisst, Entscheidungsträger müssen nun nach bestem Wissen und Gewissen mit Blick auf eine gemeinsame Zukunft entscheiden. Genau dies macht Führung aus.
Manch ein Topmanager sieht sich heute vor der größten Herausforderung seiner Karriere. Ralf Brandstätter, seit Anfang Juli 2020 neuer VW-Markenchef, stellte dazu in der VW-Firmenzeitung fest: „Es gilt jetzt wirklich, jeden Euro umzudrehen, bevor wir ihn ausgeben – und mit absoluter Kostendisziplin zu arbeiten. (…) Das Unternehmen ist in einer wirklich schwierigen Situation.“ Und wenn die Kurzarbeit auslaufe, werde es irgendwann „brutale Erkenntnisse“ geben.
Bedeutet dies nun, dass das Streben nach einem grösseren «Purpose» für die Gesellschaft wieder ins Hintertreffen gerät, da es bei vielen Unternehmen nun primär nur noch um das reine Überleben geht? Dieses Szenario ist real, wenn jetzt alle Aufmerksamkeit nur noch auf die Bottom-line gerichtet wird. Doch dann verpassen viele Unternehmen eine einzigartige Chance. Gerade jetzt, in dieser Phase grosser gesellschaftlicher Verunsicherung, können Topmanager zeigen, dass ihnen ihre gesellschaftliche Verantwortung ein wirkliches Anliegen ist. Jetzt stehen sie mehr denn je im Scheinwerferlicht. Jetzt können sie bei aller wirtschaftlichen Verantwortung für das Unternehmen zeigen, dass sie sich in die möglichen Nöte ihrer Anspruchsgruppen (Mitarbeiter in Kurzarbeit; Kunden in Zahlungsschwierigkeiten; Lieferanten ohne Auftragseingänge etc.) einfühlen können und gemeinsam mit ihnen nach mitmenschlich geprägten Lösungen suchen. Wie bedrückend waren doch die Berichte aus den Textilfabriken in Bangladesch, wo grosse westliche Handelskonzerne ihre bestellte und bereits produzierte Ware unter Ausspielung ihrer Verhandlungsmacht einfach nicht abgenommen und nicht bezahlt haben. Die Folge war, dass vor Ort viele Arbeiterfamilien in Hunger und noch mehr Armut getrieben wurden.
Führungskräfte müssen sich im Klaren sein, dass die Art und Weise, wie sie sich in dieser Krisensituation verhalten, die Geschichte und spätere Identität des Unternehmens wesentlich prägen wird. Dort wo Organisationen bereits über einen weitgehend geteilten «Purpose» verfügen, muss sich dieser nun bewähren. Er kann als Kompass für das Verhalten und Entscheiden in diesen schwierigen Zeiten dienen. Darüber hinaus kann er den Mitarbeitenden ein Sinnangebot vermitteln – und zwar auch in Unternehmen, in denen angesichts der Übermacht einer auf quantitative Ziele fokussierten Unternehmensführung, eher eine Sinnentleerung beklagt wurde.[5] Jetzt kann gezeigt werden, dass es nicht primär um Eigennutz geht, sondern darum, gemeinsam «das Richtige» zu tun. So steht die Glaubwürdigkeit des Unternehmens und ihrer Führung gerade jetzt auf dem Spiel. Das operative Ergebnis der Volkswagen Gruppe hatte – trotz hoher Strafzahlungen wegen des Dieselbetrugs – in 2019 die Rekordmarke von 16,96 Mrd. Euro erreicht. Dies deutet auf erhebliche Freiheitsgrade beim Entscheiden hin – trotz Absatzflaute. Es ist die Zeit, um Charakter zu zeigen, und Egos in den Hintergrund zu stellen.
Im Hinblick darauf sind diese Corona-Zeiten auch eine Stunde der Wahrheit. Man wird erkennen können, in welchen Fällen Wandel nur ein Lippenbekenntnis ist. Es wird aber auch Organisationen geben, bei denen das Topmanagement durch authentisches Handeln glaubwürdiges soziales Engagement zeigt. Authentisch zu sein bedeutet in diesem Sinne, in Übereinstimmung mit seinen innersten Werten zu leben und zu handeln. Daraus folgt auch, dass die Grenzen zwischen „Profit“ und „Purpose“ immer wieder neu auszuloten sind, wobei der „Purpose“ vor dem „Profit“ steht. Henderson drückt dies wie folgt aus: «Authentisch zweckgerichtet zu werden, bedeutet, … sich dafür zu entscheiden, das Richtige zu tun, und dann hart darum zu kämpfen, den Business Case zu finden, um es möglich zu machen.»[6] Dies sollte dann auch unsere Leitidee für die Zeit nach Corona sein.
[1] Vgl. z. B. zum dabei auch zu erwartenden positiven Effekt auf die Performance: Gartenberg, C./Prat, A./Serafeim, G. (2019): Corporate purpose and financial performance, in: Organization Science, Vol. 30, No. 1, S. 1-18. [2] Henderson, R. (2020): Reimaging capitalism in a world of fire, New York: Public Affairs, S. 15. [3] https://www.blackrock.com/corporate/investor-relations/larry-fink-ceo-letter (abgerufen am 17.2.20) [4] Vgl. dazu Kay, J./King, M. (2020): Radical uncertainty. Decision-making for an unknowable future, London: The Bridge Street Press. [5] Vgl. dazu Müller-Stewens, G. (2019): Die neuen Strategen. Gestalter der Unternehmenszukunft, Stuttgart: Schaeffer-Poeschel Verlag, Kapitel 1.4.1. [6] Henderson, R. (2020): Reimaging capitalism in a world of fire, New York: Public Affairs, S. 95.