Wir sind pedantisch. Information verstehen wir nicht als Ding, das immer schon da ist und dann „verarbeitet“ oder „weitergeleitet“ werden kann. Information entsteht vielmehr erst dann, wenn der Empfänger aus dem „Rauschen“, das ihn umgibt, das für ihn Bedeutsame auswählt. Entscheidend für die Selektion ist dabei der Unterschied, der einen Unterschied macht. Diese Filterarbeit gehört angesichts des anschwellenden Rauschens zu den wichtigsten Aufgaben der Führungs- und Projektarbeit. Ständiges unbewältigtes Rauschen führt geradewegs in die kognitive Erschöpfung.
Die Essenz der interpretativen Kompetenz
Die technischen Möglichkeiten sowie unsere Art zu leben und zu arbeiten haben dazu geführt, dass heute in der hehren Absicht zu „informieren“ und zu „kommunizieren“, Signale in nie bekannter Menge und Geschwindigkeit produziert und in Umlauf gebracht werden. Die interpretative Kompetenz ist eine Antwort auf diese Signalüberflutung. Das lateinische Wort interpretare – erfassen, erkennen, deuten, begreifen – weist schon auf die Essenz der interpretativen Kompetenz hin: die Regulierung der Signalflut (Abbildung 1).
Achtsamkeit üben
Interpretative Kompetenz verlangt Achtsamkeit. In diesem Zustand registrieren wir das Wahrgenommene, ohne es sofort zu bewerten oder uns emotional fortreißen zu lassen. Wir werden uns dessen bewusst, dass unsere Sichtweise unzweckmäßig, eingeschränkt oder verengend sein kann. Und dass man die Dinge eben auch aus anderen Blickwinkeln betrachten kann. Achtsam sind wir nicht, wenn wir immer wieder mit unseren Gedanken abschweifen. Und schon gar nicht, wenn wir uns ständig vom energiesparenden „Autopiloten“ im Gehirn steuern lassen.
Überlegtes Denken wagen
Diese Fähigkeit, auch Metakognition genannt, dient dazu, unser Denken zu regulieren. Dazu gehört ein Wissen darüber, (a) was wir aus der auf uns einströmenden Signalflut auswählen müssen, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen; (b) wann und (c) wie wir die gewonnene Information am zweckmäßigsten einsetzen sollen. Überlegtes Denken ist gleichsam eine höhere Instanz, mit der eigene Denkschwächen und Urteilsverzerrungen aufgedeckt und – das ist der springende Punkt – zugleich Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können.
Mit Widersprüchen umgehen
Jetzt wird es noch anspruchsvoller. Führungs- und Projektarbeit mit ihren vielen Schnittstellen innerhalb und außerhalb des eigenen Systems braucht zwei weitere Fähigkeiten. Einmal die Ambiguitätstoleranz, um Mehrdeutigkeit auszuhalten oder sogar produktiv zu nutzen. Und zum anderen die Fähigkeit, mit Ambivalenzen, also dem Nebeneinander von Gegensätzen (z.B. Hassliebe), umzugehen.
Andere Perspektiven einnehmen
Klingt plausibel, aber wie soll das gehen? Zum Beispiel: Statt in Meetings immer denselben Platz einzunehmen, einfach die Position wechseln und so die anderen zwingen, das gleiche zu tun; Dinge im Stehen besprechen; „Walk and Talk Meetings“ einführen; in Besprechungen Laptops und Powerpoint verbannen und stattdessen alles mit der Hand schreiben, kritzeln und zeichnen; Möglichkeiten schaffen, Proben oder Muster berühren, bewegen, verformen, riechen oder schmecken zu können; oder hie und da in Meetings einen „Hofnarren“ einschleusen, der provoziert und irritiert …
Der Multitasking-Falle entkommen
Multitasking ist zugleich Illusion, Verhaltensstörung und Ursache für chronische Erschöpfung. Dazu eine Übung als Ausweg: Portionieren Sie die Arbeitszeit in Abschnitte von etwa einer halben Stunde. Widmen Sie sich in dieser Zeit konzentriert einer Aufgabe, um dann im nächsten Abschnitt zu einer anderen Aufgabe zu wechseln. So vermeiden Sie sowohl Monotonie als auch ein ständiges Wechseln. Achten Sie dabei auf ausreichende Pausen, um den Konzentrations-Akku wieder aufzuladen.
Der Wert der interpretativen Kompetenz
Wie bei den anderen bisher besprochenen Schlüsselkompetenzen geht es auch hier um Souveränität. Dieses Mal im unaufgeregten, überlegten und sich selbst vertrauenden Umgang mit der Signalflut oder dem Rauschen.
Mehr erfahren?
Lesen Sie hier die Beiträge zu weiteren Schlüsselkompetenzen:
Heuristische Kompetenz – Von Archimedes zu Mark McCormack
Intrapersonale Kompetenz – Aus dem Hamsterrad in die Innenschau
Interpersonale Kompetenz – Könnerschaft im Zwischenmenschlichen
Das Buch „Schlüsselkompetenzen in Führungs- und Projektarbeit“ wirft einen kritischen Blick auf herkömmliche Kompetenzmodelle und stellt das neue Umfeld für Führungs- und Projektarbeit vor. Es entwickelt daraus fünf zentrale Schlüsselkompetenzen und verknüpft diese mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen.