Ich sehe was, das du nicht siehst. Wenn Mitarbeitende das Blaue vom Himmel malen – Der Müller im Rumpelstilzchen
Der König des Landes trifft in einer nicht näher beschriebenen Situation einen armen Müller, der bei dieser Gelegenheit eine angebliche Fähigkeit seiner Tochter anpreist. Die schöne Müllerstochter könne, so ihr Vater, Stroh zu Gold spinnen. Daraufhin befiehlt der König dem Müller, am nächsten Tage die junge Frau auf das Schloss zu bringen, um von der ungewöhnlichen Fertigkeit zu profitieren.
Im „Rumpelstilzchen“ erleben wir, wie ein König und ein Berater sich der Not einer jungen Frau bedienen , wie eine junge Frau zur Königin aufsteigt und ausschließlich in der Anfangssequenz auch dem bereits erwähnten Müller, der seine Tochter über seine Behauptungen ins Schloss bringt.
Werfen wir einen näheren Blick auf diesen Müller und seine Führungskraft. Wir begegnen hier einem Mitarbeiter, der maßlos und vielleicht sogar schamlos übertreibt. Er bringt die junge Frau, seine Mentee, der er unglaubliche Kompetenzen nachsagt, damit in große Gefahr, in der Folge aber auch in die oberste Führungsetage. Das große Risiko für sie nimmt er in Kauf.
Wie kann es sein, dass der Mitarbeiter so übertreiben muss?
Häufig gibt es Kompetenzen und Fähigkeiten in Organisationen, die von den Führungskräften nicht gesehen werden. Da es nicht möglich ist, in einem großen Unternehmen alle Ressourcen aller Mitarbeitenden zu jedem Zeitpunkt zu kennen, ist ein kluges Personalentwicklungskonzept nötig.
Einerseits hat hier in unserer Geschichte der Müller, nennen wir ihn eine mittlere Führungskraft, offenbar als Einziger das Potential in der jungen Frau erkannt, die er dem König anpreist. Andererseits greift er zu Mitteln, die hochriskant sind und die die junge Frau an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und den Rand der Kündigung bringen. Sie muss sich unter höchstem Stress beweisen und bewältigt zwar die gestellte Aufgabe, nutzt jedoch andere Ressourcen als die ihr angedichteten. Wieso muss ihr Mentor, der Müller, ein so zu solch drastischen Mitteln greifen und damit ein hohes Risiko eingehen?
Wie können solche mittleren Führungskräfte bei ihrer Aufgabe unterstützt werden?
Immer wieder trifft man auf Mitarbeitende, deren Arbeit nicht genug wertgeschätzt wird. Wir wissen aus Theorie und Praxis, dass eines der größten Bedürfnisse von Mitarbeitenden das „Gesehen- Werden“ ist. Gerade wenn anstrengende und eintönig erscheinende Arbeiten zu erledigen sind, wie z.B. das tägliche Mahlen von Korn, kann diese Aufmerksamkeit besonders wichtig sein.
Unser Müller hasardiert und ist bereit, ein sehr hohes Risiko einzugehen, um Erfolg zu haben, vielleicht weil seine tägliche Arbeit ihm nicht genug erscheint. Dieser Mitarbeiter braucht Anerkennung für die ihm eintönig erscheinende Arbeit und vielleicht, wenn möglich, Abwechslung. In jedem Fall ist es wichtig ihm deutlich zu machen, dass er einen wichtigen Beitrag zum Gelingen des Unternehmenserfolgs beisteuert, auch wenn seine Arbeit nicht immer aufregend erscheinen mag.
Ein interessantes Instrument in der Personalentwicklung ist jenes der Potentialanalyse, um generell auf verborgene Talente von Mitarbeitenden zu stoßen. Vor allem in größeren Organisationen ist es herausfordernd, regelmäßig die Ziele und Entwicklungspotentiale in Perspektivengesprächen herauszufiltern. Daher ist es umso wichtiger, einerseits strukturell für alternative Möglichkeiten der Potentialerkennung zu sorgen und andererseits durch informelle Kontakte zu signalisieren: „Ich bin da und ich sehe dich. Du bist wichtig.“ Das kann der Gruß am Morgen sein oder ein täglicher kurzer Rundgang in jeweils einer anderen Abteilung.
Die Märchen der Gebrüder Grimm sind voll von Geschichten mit dem Umgang mit Macht, von Risiko und Machtverlust, von Königreichen und Menschen, die die Gnade von Königinnen und Königen verlieren.
Olivia de Fontana und Sabine Pelzmann bieten in ihrem neuen Buch „Führung und Macht. Aspekte moderner Führungsrollen – gesehen in Figuren der Grimm´schen Märchen“ eine ungewöhnliche Auseinandersetzung mit der Führungsrolle, den Aufgaben und Herausforderungen von Führung. Anhand von zehn ausgewählten bekannten und auch eher unbekannten Märchen der Gebrüder Grimm geben die Autorinnen in dialogischer Form einen interdisziplinären Zugang, fernab von mechanistischen Managementmodellen.
In Ihrem Beitrag „Das reife Management Team“ beleuchtet Sabine Pelzmann das Thema Top-Teams und die Parallelen dazu in der Märchenwelt.